Die Lorbeeren ernten die anderen

Manchmal liest man etwas, das einen stutzen lässt. Nicht, weil es vollkommen falsch ist, sondern weil es sich seltsam verdreht anfühlt. So erging es mir mit einer Aussage auf Livenet, wo besonders die konservativ-evangelikalen für mehr Akzeptanz gegenüber homosexuellen Menschen gewürdigt werden.
Persea/Borbonia indica - vinatigo - Indische Persea

So schreibt Livenet:

Der Anstieg der Akzeptanz homosexueller Menschen zieht sich durch fast das gesamte religiöse Spektrum. Besonders deutlich ist die Veränderung in der katholischen, der konservativ-evangelikalen und der muslimischen Tradition. Peter Schneeberger dazu: «Bemerkenswert auch, dass die Grundtendenz dahin geht, dass sich für Homosexuelle in unseren Gemeinden eine Heimat geboten wurden. Das ist doch eher überraschend und zeigt, dass die Medien nur Einzelbeispiele hochkochen und keine fundierten Zahlen begutachten.»

Und ich dachte nur: Wirklich? Sind es nicht gerade die progressiven Stimmen – gerade auch innerhalb der Freikirchen – die diese Entwicklungen angestossen haben, während sie gleichzeitig häufig Gegenwind von konservativer Seite ertragen mussten?

Gesellschaftlicher Wandel:
Wer bewegt ihn wirklich?

Ein Blick in die Zahlen zeigt deutlich, dass die Gesellschaft offener wird und das wird auch in Freikirchen spürbarer. Die Ablehnung von Homosexualität oder Sex vor der Ehe nimmt ab, während Werte wie soziale Gerechtigkeit, Gemeinwohl und Schöpfungsbewahrung stabil bleiben oder sogar an Bedeutung gewinnen. Das ist ein positiver Trend. Allerdings muss man hier anmerken, dass es sich um eine Aussenwahrnehmung der Freikirchen handelt und Freikirchen sich in der Tendenz vermutlich nur weniger stark positioniert haben. Zudem zeigen die Zahlen auch klar, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung vielfach eine geringe Bedeutung haben. Doch wenn man ehrlich ist und den Blick nach innen richtet, stehen konservative evangelikale Gruppen diesen Themen oft skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber. Gerade in Fragen der Sexualethik und der Inklusion von LGBTQ+-Menschen haben viele von ihnen eher versucht, progressive Kräfte zu bremsen, statt sie zu fördern.

Dass solche Entwicklungen nun als Erfolg konservativer Evangelikaler dargestellt werden, wirkt wie eine Überdehnung der Realität. Konservative Bewegungen waren hier nicht die Zugpferde, sondern häufig die Bremsklötze. Wer also hat die gesellschaftliche Akzeptanz vorangetrieben? Es waren die Menschen und Gruppen, die bereit waren, über den Tellerrand hinauszuschauen – oft unter erheblichem Druck und trotz massiver Kritik.

Progressiv und trotzdem gläubig

Progressive Christen haben in den letzten Jahren mutig Räume geschaffen, in denen Themen wie Sexualität, Gerechtigkeit, Inklusion und Gemeinwohl offen diskutiert werden konnten. Sie haben theologische Argumente gegen die Ausgrenzung vorgebracht und versucht, die Liebe Gottes in den Mittelpunkt zu stellen, anstatt moralische Regeln. Diese Stimmen waren es, die es wagten, traditionell gefärbte Glaubenssysteme zu hinterfragen und neue Perspektiven zu entwickeln.

Und was passiert, wenn sie das tun? Sie werden nicht selten als „liberal“, „theologisch untreu“ oder gar „gefährlich“ geframt – insbesondere von konservativen Flügeln. Bewegungen wie Daniel Option oder Zukunft Schweiz, die sich auf Rückzug und den Erhalt traditioneller Werte konzentrieren, haben wiederholt das Bild geprägt, dass progressive Christen „nachgiebig“ seien und ihre Überzeugungen an den Zeitgeist verkaufen würden. Gleichzeitig beanspruchen konservative Gruppen nun die Erfolge eines gesellschaftlichen Wandels, den sie selbst oft bekämpft haben.

Der Kampf um die Deutungshoheit

Diese Dynamik wirft eine interessante Frage auf: Geht es hier wirklich um gesellschaftliche Veränderungen – oder um die Deutungshoheit über diese Veränderungen? Wenn konservative Evangelikale die Lorbeeren für eine offenere Gesellschaft ernten wollen, die sie selbst kaum gefördert haben, dann wird deutlich, dass es hier nicht nur um Inhalte, sondern auch um Image und Relevanz geht. Man möchte zeigen, dass man gesellschaftlich wirksam ist – auch wenn die eigene Rolle in Wirklichkeit oft eher reaktiv war.

Doch diese Instrumentalisierung geht auf Kosten derjenigen, die tatsächlich für Veränderungen gekämpft haben: Progressive Christen, die oft die Brücke zwischen Glauben und gesellschaftlichem Wandel gebaut haben. Sie mussten nicht nur gegen äussere Widerstände kämpfen, sondern auch gegen innerkirchliches Framing, das sie als „zu weich“, „zu angepasst“ oder „zu woke“ darstellte.

Warum das Framing gefährlich ist

Das Framing progressiver Christen als „Nachzügler“ oder „Verräter“ an biblischen Werten ist nicht nur unfair, sondern auch gefährlich. Es verschärft die Polarisierung innerhalb der Freikirchen und verhindert echte Dialoge über gesellschaftliche Themen. Schlimmer noch: Es lenkt davon ab, wer tatsächlich Verantwortung für positive Veränderungen übernimmt und wer sich stattdessen in einer Verteidigungshaltung verharrt. Man versucht gerade jenen Flügel zu stärken und treibt in letzter Konsequenz jene aus den Gemeinden, die zu diesem Imagewandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung beigetragen haben. 

Wer verdient die Lorbeeren?

Wenn wir über die Fortschritte in Sachen Akzeptanz, Inklusion und Offenheit sprechen, sollten wir ehrlich sein: Die Lorbeeren verdienen diejenigen, die den Mut hatten, Veränderungen einzuleiten – und die dafür oft hohen persönlichen und gesellschaftlichen Preis gezahlt haben. Es sind die Menschen, die für Gerechtigkeit eingetreten sind, die Themen wie Homosexualität, Diversität und Gemeinwohl auf die Agenda gesetzt haben. Es sind diejenigen, die Liebe über Moral stellen, Barmherzigkeit über Urteil.

Konservative Evangelikale haben in vielen Bereichen wertvolle Beiträge geleistet, aber diese Erfolge gehören ihnen nicht. Es wäre Zeit, dies anzuerkennen – und die progressive Bewegung innerhalb und ausserhalb der Kirche endlich als das zu sehen, was sie ist: Eine Kraft, deren primäres Anliegen nicht die Spaltung, sondern die Veränderung ist.

Fazit

Es ist leicht, sich mit den Erfolgen anderer zu schmücken. Aber wenn wir ehrlich über gesellschaftlichen Wandel sprechen wollen, sollten wir auch ehrlich darüber sprechen, wer ihn vorangebracht hat. Die Lorbeeren gehören denen, die den Mut hatten, unbequem zu sein, die kritische Fragen stellten und dennoch am Kern des Glaubens versuchen festzuhalten. Und diese Lorbeeren sollten ihnen nicht von jenen streitig gemacht werden, die sie erst blockiert und dann für sich beansprucht haben.