In meinem jungen Erwachsenenalter – oder vielleicht treffender: während ich noch dabei war, erwachsen zu werden – entstand eine tiefe Freundschaft mit einem jungen Mann.
An sich wäre das nichts Besonderes gewesen, wenn dieser Freund nicht trans gewesen wäre. Es waren die frühen 2000er-Jahre, und ich wuchs in einem freikirchlichen Umfeld auf, das man wohl als konservativ oder evangelikal bezeichnen würde.
Meine Eltern hatten durch ihre Prägung in der Heilsarmee stets eine etwas weitere Sicht auf die Welt, was mir im Rückblick ein wertvolles Fundament war. Dennoch wirkte der Einfluss meiner Freikirche stark in mir – das merkte ich besonders in der Begegnung mit meinem Freund.
Ich habe ihn nie verurteilt
Es kam nie ein Urteil über meine Lippen. Ganz im Gegenteil: Wir waren eng befreundet, gingen durch dick und dünn, trugen denselben „Style“, erlebten vieles gemeinsam. Ich fühlte mich von ihm angenommen, auf eine Weise, die tief und echt war.
Und doch spürte ich anfangs eine gewisse innere Barriere – Berührungsängste, die ich mir selbst kaum erklären konnte. Ein Teil in mir war geprägt von Ablehnung, wie sie in meinem religiösen Umfeld mitschwang. Doch ein anderer Teil in mir wollte genau das nicht.
Jesus vor Augen
Immer wenn ich an Jesus dachte, sah ich einen Mann vor mir, der völlig frei von solchen Ängsten war. Er suchte die Nähe derer, die in den Augen der Frommen als „Zöllner und Sünder“ galten. Er ass mit ihnen, lebte mit ihnen – und war damit ein Skandal für die religiöse Elite seiner Zeit. Diese Vorstellung hat mich begleitet, herausgefordert und innerlich bewegt. Und sie hat mir geholfen, offener zu werden – nicht nur für andere Menschen, sondern auch für das, was in mir selbst vorgeht.
Ich fühlte mich alleine
Damals war ich auf mich selbst gestellt – oder zumindest fühlte es sich so an. In dem konservativen Umfeld, in dem ich aufgewachsen war, hatte ich genau gelernt, was dort als „gottgewollt“ galt – und was als „gegen Gott“ angesehen wurde. Vor allem Sexualität ausserhalb der Ehe stand im Fokus, insbesondere Homosexualität. Trans-Identität? Davon war keine Rede. Dieses Thema kam erst viele Jahre später überhaupt ins Blickfeld. Ich hatte viele Jahre Sonntagsschule hinter mir, war mit Begeisterung in der Jungschar – eine Zeit, die ich sehr liebte. Ich wusste genau, wie ich mich in der christlichen Welt verhalten musste, um ins gewünschte Bild zu passen. Ich war gut darin geworden, dieses Bild zu erfüllen.
Aber ich hatte nie Werkzeuge bekommen, wie ich Menschen begegnen sollte, die diesem Idealbild nicht entsprachen. Es fehlte mir an Orientierung, an Sprache, an innerer Freiheit – obwohl ich sie mir eigentlich tief wünschte. Ich fühlte mich zwischen zwei Welten, ohne eine Brücke dazwischen. Ich entschied mich für die Weite und gegen die Enge.
Ich entschied mich für offene Arme
Gerade jenen gegenüber, die so oft durch gesellschaftliche und religiöse Raster fallen. Ich wollte nicht länger Teil eines Systems sein, das Menschen ausschliesst, weil sie nicht in ein bestimmtes Schema passen. Stattdessen entschied ich mich bewusst für die Perspektive der Liebe, wie ich sie in Jesus sehe – radikal, einladend, heilend.
Es war kein einfacher Weg. Er forderte mich heraus, meine Prägungen zu hinterfragen, meine Ängste anzusehen und meinen Glauben neu zu begreifen. Aber dieser Weg hat mein Herz weiter gemacht. Ich habe gelernt, dass echte Nachfolge nicht darin besteht, Menschen zu bewerten – sondern ihnen zu begegnen. Auf Augenhöhe. Mit Würde. Mit offenen Armen.
Und ich glaube: Genau dort beginnt das Reich Gottes.